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von:
Eisvogel ➜ Straßen von Nowigrad
Datum: früher Abend, 14. August 1278
betrifft: derzeit niemand
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Ihr erster Weg führte Jordan noch einmal auf den Platz, auf dem Novka ihr die Scheiterhaufen gezeigt hatte. Einer abgebrannt, zwei neu aufgeschichtet. Sie blieb an einer Hausecke stehen, von der aus man eine gute Übersicht über den Platz und die zuführenden Straßen hatte, und selbst eine Wand im Rücken. Warum genau sie noch einmal hergekommen war, hatte mehrere Gründe: zum einen als eine Form von Selbstkonditionierung. Nicht vergessen, wo du bist, Pandora und was diese Leute mit jemandem machen, der sich abnorm verhält. Zum anderen, um die Leute zu beobachten, die um diese Scheiterhaufen herum liefen und agierten. Wieso wollte Sokolov diese Stadt retten, sprich wo waren die Normalos, die eben keine Hexenjagd veranstalteten, sondern einfach nur leben wollten. Wieso waren die Leute hier schützenswerter als die auf der anderen Seite der Front. Eine Frage, die sie sich als Mitglied der Streitkräfte der Vereinigten Staaten nie hatte stellen müssen, aber jetzt, da sie auf das hier limitiert war und es auf absehbare Zeit wohl keinen Ausweg gab, musste sie ihr zwangsläufig in die Augen sehen.
Wieso also Nowigrad?
Weil der Zufall Schlucha in diesem Hafenbecken versenkt hatte?
Sie folgte mit den Augen zwei Frauen, die schwatzend vorüber gingen. Jede trug einen Korb und beide hatten eine Haube auf dem Kopf, bunte Rocke unter hellen Schürzen und trotz der Wärme Tücher um die Schultern. Jordan war ganz froh, dass sie es nach fast zwanzig Jahren Beobachtung und Immitation ganz gut drauf hatte, als Kerl durchzugehen, wenn sie es drauf anlegte, sonst wäre die fehlende Haube und die Hosen wohl direkt der erste Stein des Anstoßes gewesen.
Ihr Blick driftete zu dem Gebäude, dass ihr als Palast des Hierarchen vorgestellt worden war. Vor der Tür zwei Typen, die aussahen, wie aus einem Burgmuseum. Ritterrüstungen, ganz in echt. Dieser Hierarch hatte dann wohl mit dem Papst so wenig gemein wie diese Typen mit der Schweizer Garde. Wobei Jordan in europäischer Geschichte nicht so sattelfest war, um zu wissen, dass die Päpste um 1300 rum anders drauf gewesen waren als in der Neuzeit und dass sich der Hierarch dann wiederum gar nicht so sehr von diesen unterschied. Inklusive Scheiterhaufen. Sie war einfach im Kopf noch nicht so weit, um gänzlich in dem Fakt abzutauchen, dass sie mitten in einer Art Hochmittelalter steckte. Dass das hier kein Spiel oder lebendes Museum war, sondern harte Realität.
Sie blieb so lange an ihrer Ecke, bis sie bemerkte, dass man sie bemerkt hatte. Von einem anderen, nicht minder protzigen Haus aus, dass angeblich dem Regenten gehörte. Dem Mann, für den Sokolov arbeitete. Die Wächter vor der Tür sahen auch nicht aus, als verstünden sie viel Spaß oder würden lange Fragen stellen, und als die Frequenz der Blicke in ihre Richtung anstieg, entschloss sich Jordan den geordneten Rückzug anzutreten. Gerade rechtzeitig, bevor sich einer der beiden in ihre Richtung in Bewegung setzen konnte. Empfindlich, die Typen.
Sie ließ sich durch die Stadt treiben, folgte der Strömung von Menschen durch Straßen und auf einen weiteren Platz, wo gerade die Marktstände abgebaut wurden. Die noch verbliebenen Auslagen erinnerten sie an die Basare im Osten, ebenso die Geruchsmelange. Hunde streunten zwischen den Wagen und ständen, Frauen verjagten sie mit Besen oder Knüppeln. Und überall waren Ratten. Die Biester versteckten sich noch nicht mal und rannten frech zwischen Füßen, Resten und ihren Schlupflöchern herum. Das war wirklich ekelhaft. Aber es war nicht das einzige, was Potenzial hatte, Jordan Herpesbläschen zu zaubern. Die Hygiene war so, wie man es sich vorstellte. Die Frauen wuschen an den Brunnen die Wäsche, die Hunde pissten an die Brunnenwand, die Pferde verloren überall Äpfel, die Ochsen Fladen und so mancher Hinterhof roch wie eine Kloake.
Auch Saigon war kein Maß an Reinheit gewesen, aber da herrschte Krieg. Hier zwar irgendwie auch, wenn sie das richtig verstanden hatte, aber die Stadt war weder besetzt noch belagert. Das musste also der Normalzustand sein und es fiel Jorden extrem schwer, sich damit abzufinden, dies jetzt als ihren Aufenthaltsort für die nächsten x Jahre anzuerkennen. Der Gedanke drehte ihr zusammen mit den Gerüchen den Magen um und sie floh Richtung Hafen, bevor sie sich noch übergeben musste. Überhaupt fühlte sie sich unangenehm zittrig, aber die salzige Brise am Meer machte es gleich etwas besser, außerdem war es hier nicht so voll. Schiffe wankten träge auf den Wellen, Taue und Masten knarrten. Ein Kahn wurde gelöscht und die Matrosen sangen ein Lied, das Jordan an die Working songs ihrer Heimat erinnerte. Eine Weile hörte sie zu, überlegte sogar, ob sie sich vielleicht hier verdingen konnte, aber bevor sie das in Angriff nahm, musste sie ihre weiblichen Attribute besser kaschieren, denn leider war sie dahingehend von der Natur zu gut bestückt worden. Das abfällige Lachen des Wirts klang ihr noch zu deutlich in den Ohren und sich darauf nicht gleich entsprechend zur Wehr setzen zu können (aus sprachlichen und taktischen Gründen), kratzte an ihrem Stolz.
Eine Weile blieb sie an der Kaimauer sitzen, bis die Unruhe sie doch wieder packte und weiter trieb. Sie kam an einem Schiff vorbei, das bewacht wurde und blieb nicht stehen, weil es genauso grimmig drein blickende Typen wie am Regentenpalast waren. Ob das Soldaten waren, denen Sokolov vorstand? Und wenn ja, konnte sie sich selbst zwischen diesen vorstellen? Irgendwie abstrus. Ihr Blick glitt zum Himmel. Sie war kein Fußsoldat.
Einmal tief durchatmen. Augen schließen.
Sie war so lange durch Scheiße gerobbt, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und jedem noch so großen Arschloch die Stirn geboten, um ihre Flügel zu bekommen, nur damit sie jetzt von so einem dahergelaufenen Portal gestutzt wurden. Wenn es um Flugzeuge, Flugzeugtechnik und Fliegen ging, hatte sie eine verdammt hohe Frustrationstoleranz, aber abseits davon war die Schwelle schnell überschritten. Ihr Weg hatte sie an der Befestigungsmauer entlang auf die andere Seite der Stadt geführt, von wo sie die Tempelinsel sehen konnte. Hier war der Strand nicht befestigt und nur vereinzelte kleinere Stege führten ins offene Wasser hinaus. Mit der Fußspitze kickte sie einen Stein aufwärts, fing ihn mit der rechten Hand und warf ihn mit aller Kraft und einem Laut, der ihre ganze Frustration nach außen trug, aufs Meer hinaus. Platschend ging er in den Wellen unter und bekam noch Gesellschaft von weiteren fünf Steinen, sowie diversen Flüchen, Beschuldigungen und sonstigem seelischen Unrat.
Ein Fischer, der bei seinem Boot hockte und sein Netz flickte, sah kurz auf, schien sich für die Irre allerdings nicht weiter zu interessieren. Zumindest nicht, so lange sie weit genug weg war. Blieb sie nur nicht und schon schaute er misstrauisch, als sie sich seinem Steg näherte.
"Guten Tag Sir, geht's dort zum Einkaufszentrum?"
Der Mann schaute sie irritiert an, blickte dann in die gewiesene Richtung und sagte etwas, das sie natürlich nicht verstand. So wenig wie er wohl ihre Worte verstanden hatte, aber sie lächelte.
"Danke Sir, einen schönen Tag Ihnen auch." Und weiter ging ihr Spaziergang. Eines war sicher: sie würde hier über kurz oder lang durchdrehen, also konnte sie auch mit Sokolov an seinen Projekten arbeiten, die nicht weniger irre rüber kamen als sie selbst wohl gerade. Schlucha heben, Napalm basteln, Greifen reiten. Klang wie erstrebenswerte Jahresziele. Hoffentlich zahlte er Gewinnbeteiligung... Jordan schüttelte über sich selbst den Kopf. In Momenten wie diesen verfluchte sie ihre Alkoholintoleranz, denn wie schön wäre jetzt ein Schnaps gegen das Chaos im Kopf. Naja, sie hatte andere Mittel.
Der Gedanke brachte sie auf den Weg zurück durch die Stadt und
zur Taverne.