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von/nach:
Silberstein, Slavas Haus --> in die Komturei
Datum: Sommer 1278
betrifft: niemanden direkt
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Der Morgen war auf seine Weise surreal verlaufen und der Weg zurück zur Komturei hatte auf seine weise etwas Surreales. Fast automatisch hielt er sich inzwischen in der Nähe der Hausmauern, denn die frühen Morgenstunden waren gefährlich. Die Bewohner mancher Viertel leerten gerne mal Mülleimer und Nachttöpfe einfach aus den Fenstern und befolgte man einfache Regeln, die sich aus der Ballistik erschlossen, dann blieb man halbwegs sauber. Erst hatte er direkt zur Komturei gehen wollen und sehen, wie es Jarel ergangen war, aber dann schlug er doch einen Haken durch die Stadt - laufen, um den Kopf frei zu bekommen. Und wenn er ehrlich war, wollte er Jarel auch gerade gar nicht so unbedingt unter die Augen kommen. Er hatte das Gefühl, der Ritter müsse ihm an der Nasenspitze ansehen, was er angestellt hatte, also trieb er sich noch eine Weile herum und kehrte erst gegen die Mittagsstunde in aller Heimlichkeit in die Unterkunft der Knappen zurück.
Jakob bleib einen Moment auf seinem Bett sitzen und genoss die Stille des Dormitoriums, wenn alle ausgeflogen waren. Entweder zum Mittagessen oder noch zur Andacht. Sein Bett war unagetastet, sicher bis auf das Reisegepäck, das er achtlos am Fußende aufgetürmt hatte. Seine Truhe ohnehin fast leer, brauchte er nicht zu prüfen. Sie war abgeschlossen und es galt als ungeschriebenes Gesetz, dass man die ohnehin schmale Habe eines anderen Knappen nicht anrührte. Sogar sein Talglicht wies noch den gleichen Füllstand auf. Hier sitzend lauschte er in sich hinein - fühlte er so etwas wie Heimat? Wieder zu Hause zu sein? Schwer zu sagen - es war ein Bett, hier verbrachte er seit einem Jahr mehr Zeit als sonst irgendwo, aber trotzdem hätte er es wohl niemals als zu Hause betitelt. Entsprechend unpersönlich war die Peripherie um sein Bett herum. Bei anderen hingen Dinge an den Bettpfosten oder standen Bilder auf den Nachttischen. Einer versuchte sogar vergeblich ein Stofftier vor den anderen zu verbergen, aber es lugte auch jetzt wieder unter dem Laken hervor. Nur Jakobs Bett wies keinerlei Zeichen solcher Personalisierung auf. Er könnte gehen und der nächste konnte einziehen, kein Aufräumen nötig. Er band sich nicht an Örtlichkeiten, hatte er seit dem Brand nie wieder getan. Ein Leben als fahrender Ritter, wie es manche des Ordens lebten, würde ihm sogar recht gut gefallen, aber so lange er Knappe war, gehörte er in dieses Bett.
Lautlos erhob er sich und zog die schmutzigen Kleider bis auf die groben Unterhosen aus. Er stopfte sie für die spätere Wäsche in einen Sack und nahm seine Wechselgarnitur aus der Truhe. Die Sachen rochen nach dem alten Holz, aber besser als nach ungewaschenem Männerkörper. Zeit, dass er sich endlich Schweiß und Schmutz der Reise abwusch oder besser er wollte es, aber als er den schmalen, nach einer Seite hin offenen Raum betrat, hatte er sofort ein seltsames Gefühl. Bestärkt wurde das durch einen umgestoßenen Eimer, der über den groben Steinboden gerollt war und seinen Inhalt darauf verteilt hatte. Jakob verharrte einen Moment, dann hörte er ein Geräusch, dass er inzwischen viel zu gut kannte. Die Kleider fielen auf den Boden und er eilte um die niedrige Wand herum, hinter der Schemel standen, auf denen man sitzen und sich schrubben konnte, bevor man in den Zuber stieg - sofern man sich die Mühe machte, ihn zu heizen oder noch hinein wollte, wenn schon zehn andere junge Männer drin gewesen waren.
Henselt lag am Boden, die Augen halb geschlossen, doch in den Spalten sah man nur das Weiße. Ab und an zuckten seine Glieder, doch was Jakob alarmiert hatte, war das Knirschen und Klappern seiner Zähne, ein Geräusch, dass er seit Beginn ihrer Freundschaft mit diesen Anfällen verband. Er ließ sich neben ihm nieder und zog Henselts Kopf auf seinen Oberschenkel. Um ihm etwas zwischen die Zähne zu klemmen, war es zu spät und er hatte auch nichts bei sich, also federte er nur die hin und wieder auftretenden Impulse, die seine Muskeln zucken ließen, ohne ihn allerdings gewaltsam festzuhalten. Auch das hatte er in der Zwischenzeit gelernt. Am besten legte er Henselt mit dem Kopf auf ein Kissen und ließ ihn liegen, bis es vorbei war, aber gerade war das nicht möglich. Also sorgte er nur dafür, dass der Kopf des anderen Knappen nicht von seinen Beinen rutschte.
In diesem Moment kam ein weiterer Knappe vom Hof her in den Raum, sah sie beide dort am Boden, starrte einen Moment und machte dann im Laufschritt, dass er fort kam. Jakob fluchte, konnte aber nichts tun, als ihm nachzublicken. Er hatte den Jungen noch nie gesehen - nicht besonders groß, eher rundlich, rotes Gesicht, jünger als Jakob und auch als Henselt - aber das ungute Gefühl weitete sich aus. Doch er hatte keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken. Henselt ächzte leise, was Blut auf seine Lippen brachte. Hatte er sich also doch wieder gebissen.
"Alles gut. Du bist mal wieder weg getreten.", sprach Jakob seinen Freund leise an und dieser schien sich wie so oft an dessen Stimme wieder ins Bewusstsein zu hangeln. Henselt blinzelte und seine wasserblauen Augen fanden nach einigen Sekunden ins Hier zurück. Jakob wusste, dass Henselts Anfälle eigentlich keinen Schaden machten, außer dass der andere Knappe danach furchtbar müde war. Jetzt rappelte er sich auf und rieb sich den Kopf, mit dem er wohl Kontakt mit den Bodenplatten gehabt hatte. Jakob blieb einfach hocken und beobachtete Henselt dabei, wie er sich wanked auf die Füße arbeitete. Auch etwas, was Jakob gelernt hatte und was sie teilten: Henselt hasste Mitleid und noch mehr hasste er es, wenn man ihn nach solche einem Anfall allzu sehr zu betüddeln versuchte. Dennoch war er auf dem Sprung, die Füße unter sich angestellt, sodass er gleich dazu springen könnte, wenn seinen Freund das Gleichgewicht verließ. Aber der schlug sich gut und so stannd auch Jakob nach einer Weile auf, griff sich den leeren Eimer und füllte ihn neu, um fortzusetzen, wieso er eigentlich her gekommen war.
"Was war es diesmal?", fragte Jakob beiläufig, während er sich schrubbte.
Henselt saß auf einem Schemel und wusch seine Füße, als sei nichts gewesen. Er hob nur die Schultern.
"Muss nicht immer 'n Grund haben. Vielleicht war das Wasser zu kalt.", frotzelte er. Er ging Jakob gegenüber inzwischen recht lässig mit dem Thema um, während er bei allen anderen Vorsicht walten lassen musste. Zu oft schon waren die epileptischen Anfälle als Zeichen von Besessenheit bewertet worden und allerlei Möchtegern-Exorzisten hatten sich an Henselt versucht. Hier war es ihnen bisher immer gelungen, ihn irgendwie zu verstecken oder es zu vertuschen, sobald es passierte. Jakob hatte einen siebten Sinn für Henselts Befindlichkeiten entwickelt und der junge Adlige selbst kannte inzwischen viele Trigger, denen er auszuweichen versuchte. Eigentlich hatte er den völlig falschen Wirkungsort, denn Schmerz und starke Anstrengung gehörten definitiv dazu. Dabei war er Jakob das erste Mal quasi in die Arme gefallen, denn sie hatten sich gemeinsam über eine von den Anwärtern "Blutschinde" genannte Hindernisbahn am Fuße der Steilklippen kämpfen dürfen.
"Gibt nen Neuen im Haus.", wechselte Henselt das Thema und Jakob schwenkte darauf ein. Ebenfalls schon fast ein Ritus.
"So?, machte er nur.
"Ja. Scheint ein Neffe oder so vom Hierarchen zu sein. Ziemlich großkotzig, aber sonst nicht viel hinter. Hat seine Figur.", lästerte der Blondschopf und pulte Dreck unter seinen Nägeln hervor.
"Rund, etwa so groß, rotes Gesicht, fünfzehn Winter?" Henselt nickte.
"Großartig. Der war eben hier, als du deine Auszeit hattest." Jakob hatte angefangen, sich zu rasieren, daher nuschelte er etwas, um sich nicht zu schneiden. War ja klar, dass es gleich der Neue war, der hier zum ungeschicktesten Zeitpunkt rein platzte. Und noch dazu einer von denen, die hier eine eigene Klasse innerhalb der Hackordnung dastellten. Oder es gerne darstellen würden. So ganz hatte Jakob das noch nicht durchschaut.
"Wieso war der nicht beim Essen?", echauffierte sich Henselt.
Jakob schnaubte.
"Und du, wieso warst du nicht beim Essen?"
"Putzdienst.", maulte der Andere.
"Was hast du angestellt?"
Henselt hielt inne und blickte sich kurz um, dann fuhr er leiser fort:
"Erinnerst du dich an Tisja, die Kleine mit den Blonden Zöpfen, die dem Marschall immer die Wäsche macht..."
Und so weiter. Mit Henselt fühlte Jakob sich hier dann tatsächlich zu Hause. Er war seit Seth der erste junge Mensch, den er als Freund bezeichnen würde und dessen Gesellschaft ihn nicht irgendwann anödete. Er suchte sie sogar von sich aus, was für den sonst eher verschlossenen Knappen schon eine wirkliche Überwindung war. Henselt schien den zuweilen wortkargen, aber dann doch wieder treffende kommentierenden Knappen des Klingenmeisters ebenfalls zu schätzen, obwohl sie nicht vom gleichen Stand waren. Aber unter den Rittern galt das wenig. So kam es, dass sie meistens zusammen aßen, bei den Messen beieinander saßen und zuweilen dumme Kommentare tauschten, bis man sie rügte oder auch die Unterrichtsstunden miteinander verbrachten. Und viele Strafen miteinander absaßen. Außerdem war Henselt ein guter Sparringpartner, wenn er Jakob in manchen Dingen auch einfach nicht das Wasser reichen konnte. Sein Handicap hemmte ihn und der andere Knappe nutzte das zuweilen schamlos aus, was dann wiederum schon mal zu Streit führte. Doch welche Freundschaft kam schon ganz ohne aus?
"Will Lode ihn heute Nacht gleich flitzen lassen?", fragte Jakob und streifte sich das neue Hemd über.
"Und ob. Der freut sich schon. Hat sich gleich zu Anfang nicht grad Freunde gemacht. Das Theater, als Tyssen ihm die ganzen hübschen Mitbringsel abgenommen und ihm seine Kluft ausgehändigt hat, war bühnenreif. Ich sag dir, der quiekt wie ein Schwein."
Mit der Nacht kam ein unangenehm kalter Wind auf, der trotz des Sommers dafür sorgte, dass in den Häusern die Öfen brannte. Selbst im Dormitorium der Knappen durfte der Kamin entzündet werden, was den Raum immer in ein Labyrinth aus Schatten verwandelte. Für die heutige Nacht genau das richtige Ambiente. Alle, die nicht mit ihren Rittern unterwegs waren, hatte sich versammelt und standen in stummer Reihe vor den Betten entlang des mittleren Ganges, der von der Tür bis zum Kamin führte. Es galt einen Neuen in ihrer Mitte gebührend zu empfangen. Sie alle waren durch diese Prüfung gegangen, einer Art Aufnahmeritual unter den Knappen, von dem kein Sterbenswörtchen nach draußen zu den Rittern dringen durfte, denn es war alles andere als erlaubt. Wobei Jakob glaubte, Tyssen und andere wussten um die Praktik, waren sie doch selbst einst Knappen gewesen. Doch es wurde gedulded, übersehen. Es war gewissermaßen Tradition.
Jakob selbst erinnerte sich noch gut und auch er hatte geschwiegen. Jarel und allen anderen gegenüber. Die blauen Flecke ließen sich anders erklären.
Plenius war von Lode erst eine Weile aufgehalten worden und betrat nun mit diesem zusammen den Raum. Lode war so etwas wie der selbsternannte Oberste von ihnen. Er war Wortführer und gewissermaßen Ranghöchster unter den Ranglosen. Jakob hatte sich schon oft mit ihm in der Wolle gehabt, doch auch das stets unter dem Deckmantel dieses Hauses, dessen Mauern schwiegen und dessen Bewohner alles, was hier geschah wie Geheimnisse hüteten. Lode war der Knappe des Großmarschalls und bildete sich darauf etwas ein, wodurch er in Jakob als Jarels Knappen einen Konkurrenten sah. Dieser gab wiederum nicht Kleinbei, entsprechend angespannt war das Verhältnis der beiden jungen Männer, die zu allem Übel auch noch ungefähr im gleichen Alter waren. Und Lode war bisher der Ritterschlag verwehrt worden - weshalb, dass wusste wohl nur der Großmarschall allein.
Eben jener Lode legte Plenius nun den Arm um die Schultern und sprach eindringlich auf ihn ein. Jakob wusste, was er ihm zuflüsterte - er sprach von der Aufnahme unter ihnen, von einem Ritus, von Mut und dem Aushalten. Von stählernem Willen und Zusammenhalt. Gewäsch. Es ging darum, etwas zu beweisen, um sonst nichts. Eine beschissene Mutprobe. Jakob hielt eigentlich nicht viel davon, aber in diesem Punkt heulte er mit den Wölfen. Die Aufgabe war simpel: der neue Knappe musste von der Tür bis zum Kamin laufen, zwischen den anderen jungen Männern hindurch. Klang im ersten Moment einfach, wenn diese nicht alles daran setzen würden, ihn mit den leeren Scheiden ihrer Schwerter zu vertrimmen. Jakob wusste, wie wenig schmerzhaft sich das anhörte und wie ordentlich die Treffer zwiebeln konnten - vor allem wenn man die Scheide am Schwertgurt herum wirbelte. Stumpfe Treffer, die niemanden umbrachten, aber tiefblaue Flecken erzeugten, wo sie auf Fleisch trafen. und auf Fleisch würden sie treffen, denn das Hemd blieb bei Lode.
Plenius sträubte sich nur kurz. Niemand wehrte sich lange, alle wollte sie dazu gehören. Jakob hatte da keine Ausnahme gemacht. Sie Schwertscheiden sausten durch die stille Luft des Dormitoriums.
Henselt sollte Recht behalten. Der Neffe des Hierarchen quiekte wie ein Schwein.
Doch schlimmer, Tyssen stand plötzlich in der Tür.
"Was geht hier vor?!", verlangte er eisig zu wissen. Und natürlich war der die Frage rhetorischer Natur. Jeder Blinde konnte sehen, was vorging und Tyssen ließ seine Wieselaugen über jeden Einzelnen von ihnen schweifen, bis sie auf Plenius hängen blieben, der wimmernd am Boden vor dem Kamin kauerte, den Körper übersäht von roten Malen.
"Meine Herren Knappen, das wird ein Nachspiel haben.", ließ Tyssen sie wissen und befahl sie alle schneidend zurück in ihre Betten.
Jakob lag noch lange wach.