Re: Das Haus der Melitele
Verfasst: Samstag 20. August 2022, 22:24
Er war nicht so tief weg, dass er gar nichts mitbekam, aber alles war unscharf und überzeichnet zugleich, jede Bewegung fühlte sich ausholend an, weich und unkoordiniert. Aber er half etwas mit, als sie ihm die Kleidung abstreifte. Im Rahmen seiner Möglichkeiten.
Kurz sackte er wieder in den Dämmerschlaf, dann berührte Nässe seine Haut, wärmte erst und kühlte dann, als sie trocknete. Überdeutlich, viel zu klar. Ein Schwamm. Finger. Finger auf seiner Haut, der Berg- und Tallandschaft seiner Narben. Es erinnerte ihn an etwas.
Finger auf seiner Schläfe. Er schlug die Augen auf, deren Glanz seinen Zustand überdeutlich machte, aber er sah sie. Iola, das hübsche Mädchen mit den blauen Augen. Doch jetzt fehlte etwas, dass ihn immer band, wenn er sie ansah. Das ihn hielt und einen Abstand wahrte, den der Anstand gebot und sein Schwur. Es war weg. Da war nur ein perlendes Gefühl, das seine Seiten entlang lief.
Er hob die Hand, berührte ihr Gesicht, das im dämmrigen Licht seltsam verklärt wirkte.
Er hob seine Finger und berührte sie.
Das setzte nicht nur ihre Seele in Flammen, sondern auch ihr Körper begann lauter nach etwas zu verlangen, von dem sie bisher nicht gewusst hatte, dass sie es in sich trug.
Seine Finger spielten auf ihr wie ein Bogen auf einer Violinsaite, brachte sie zum Klingen, etwas tief in ihr zum Vibrieren.
Sie wollte etwas. Aber was? War es das, was in den Büchern über die Fortpflanzung gesehen hatte?
Sie wusste es nicht, aber sie war bereit es herauszufinden.
Seine schmalen Lippen zogen die ihren an wie ein Magnet. Sie ließ sich von diesem Impuls ziehen, legte ihren Oberkörper auf seinen, drückte ihre Lippen auf seinen Mund, ohne genau zu wissen warum. Es war richtig so. Seine Lippen waren rau und eine nicht ganz so verliebte, nicht ganz so berauschte Person hätte an den Verlauf seines Ausfluges gedacht und den Kuss vermieden.
Nicht Iola.
Ihr Herz schlug so hart gegen ihre Brust das sie dachte, wenn sie dem Begehren nicht nachging, würde es ihr zerspringen.
Unwissend, dass es da mehr gab als nur die Lippen aufeinander zu drücken huschten ihre schmalen Finger in sein Haar, seinen Nacken, über seine Schulter.
Sie spürte wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten und gegen die Stoffstreifen rieben, die sie um den Oberkörper gewickelt trug. Wie es sich wohl anfühlte, wenn sie ihre Haut nackt auf seine legte?
Ob es ihm so gefiel wie ihr?
Völlig im Kuss versunken rückte die Welt weit fort von ihr.
Sie war so nah, schmeckte so süß. Sein Verstand war noch im Delirium, sein Körper folgte einfach der Verlockung ihrer Weiblichkeit. Jakobs Hände glitten unter ihr Hemd, folgten einem Instinkt, der so alt war, wie das Leben selbst.
Ihr Zögern verlosch wie ein Feuer, auf den ein Schlagwetter niederging.
Sie zog sich mit fließenden Bewegungen aus, löste die Bänder um ihre Oberweite, streifte ihr Untergewand ab, ließ alles achtlos zu Boden gleiten und schlüpfte zu ihm ins Bett.
Noch lag sie neben ihm, schwer atmend immer wieder nach seinen Lippen haschend, während ihre Finger seinen Körper erforschten und seine Hände den ihren. Seine Finger fanden Brustwarzen so hart, dass man damit einen gefrorenen Acker hätte umpflügen können.
Zwischen den Schenkeln des Jungen gerieten ihre Finger an etwas, dass sie bisher nur in der nicht erigierten Version kannte. Das hier war anders. Erstaunt linste sie zwischen die beiden vor Schweiß und Luftfeuchtigkeit glänzenden Körper. Ja…das kannte sie von den Stichen. Und jetzt war ihr auch klar, warum es in den Büchern immer so detailliert dargestellt war. Stramm vor Jakobs flachem Bauch stehend lachte ihr die pure Verlockung entgegen.
Und tief in sich wusste sie auch, was sie nun anfangen würde. Anfangen wollte. Anfangen musste.
Sanft schob sie ihn auf den Rücken und schwang sich auf seine Oberschenkel, nahm seinen Schaft in die Hand, spielte etwas damit, stöhnte tonlos. Wie es ging, wusste sie nicht recht.
Noch einen Kuss…ja, dann würde sich alles ergeben. So legte sie sich also auf ihn, seinen Schwanz zwischen seinen und ihren Bauch einklemmend, küsste ihn wieder – Küssen war sooo schön – und rieb sich an ihm, ihre Schenkel an seiner Hüfte, ihr dunkles Haar schirmte seine Sicht, so dass er nur sie sah, nur sie roch, nur sie spürte.
Es gab nur noch sie. Und ihn. Und ihre gemeinsame Lust.
Er trank ihre Küsse, atmete ihren Duft und fiel dem Feuer ihrer Berührungen hoffnungslos zum Opfer. Von allen Hemmungen befreit, erkundete er ihren jungen Körper, ließ keinen Zentimeter aus, auch wenn alles wie durch einen Dunstschleier zu ihm drang. Die Reaktion seines Körpers war ihm vertraut - wie wohl jeder Junge hatte auch Jakob sich unzählige Male der Sünde des Onan schuldig gemacht - aber von feiner Frauenhand berührt zu werden, einen warmen Körper auf der eigenen Haut zu spüren, war aufregend neu. Die Euphorie machte ihn etwas wacher, auch wenn dieses Bewusstsein verzerrt war von den Giften in seinem Blut.
Er stieß keuchend den Atem aus, als sie sich an ihn presste, bewusst oder unbewusst mit seiner Erektion spielte. Sie war schön. Ihre blauen Augen leuchteten überirdisch. Ein Engel. Sein Engel.
Sein überhitztes Gehirn gaukelte ihm Bilder vor, ließ die Ränder verschwimmen und Iolas Gesicht. Ließ sie zu Aria werden, zu Sindra, zu Miriam, zu Petra (oder Paula) - zu allen Frauen, die seine jugendliche Libido je angesprochen hatten. Bis er wieder zurück stürzte ins Jetzt. Ins Hier. Verloren.
Ein Sünder. Elend.
Aber die Hölle würde noch eine Nacht warten.
Der Rest des Aktes ertrank in Rausch und Delirium.
Halb seinen Händen, halb ihren Instinkten gefolgt richtete sie sich auf ihn auf, brachte ihn in Position…und senkte ihr Becken dem seinen entgegen.
Er spürte den Widerstand, hörte ihr tonloses Keuchen, eine Mischung aus kurzem Schmerz und aufflammender Lust, roch die Kräuter der Seife, ihren Schweiß, den leichten Geruch von Kupfer.
Und dann empfing ihn enge, tropfend feuchte Hitze.
Es brauchte nicht viel sie zu steuern. Eine kurze, sanfte Berührung seiner Hand, gewichtsloser Druck auf ihrem Becken. Sie gab keinen Laut von sich, doch schon nach wenigen Minuten warf sie den Kopf in den Nacken, ihr dunkles Haar folgte dem Schwung in einem weiten Bogen. Sie spannte den Körper, begann zu zittern. Er hatte nicht viel Mühe mit ihr. Einige kurze Stöße nach oben und sie begann zu zucken. Auf ihren Lippen ein Stöhnen, das keinen Laut abgab, doch ihr Körper rief um so lauter ihre Lust hinaus. Eng. Heiß, pulsierend.
Er kam. Mit ihr.
Und endlich riss ihn die Schwärze hinweg in einen tiefen und endlich auch erholsamen Schlaf.
Es war keine lange Nummer gewesen. Kein endloses Wälzen in den Laken. Trotzdem fühlte Iola sich, wie sie sich noch nie gefühlt hatte.
Sie war erfüllt von einer Liebe, die ganz anders war als die zur Muttergöttin. Tiefer, brennender, verlangender.
Noch bevor der gemeinsame Höhepunkt in ihrem Körper verklungen war lag er reglos da, ein seliges – und ein wenig dümmliches- Lächeln auf den Lippen, tief atmend, schlafend, ruhig.
Wenigstens für diese Nacht hatte sie ihm das Leid genommen. Ob sie jemals wieder das Bett teilen würden?
Sie wusch ihn nochmal, versuchte alle Spuren zu verwischen. Der Ritter würde mit ihr hadern, wenn er es wüsste. Schlimmer noch, Jakob durfte keine Frauen haben. Was hatte sie nur getan?!
Sie wusch, ließ alles verschwinden, drehte ihn auf die Seite, platzierte das Bettzeug so, dass er sich nicht umdrehen konnte.
Was sie nicht wusste war, dass ihr Retter und Vormund über eine Nase verfügte, die weit besser war als die eines Menschen. Zumindest so lange die Bestie in ihm das wollte.
Als Jarel sich nach der Dämmerung endlich von Iolas Schulter löste, in Jakobs Zimmer trat und ihn betrachtete, wollte der Schwarze es. Und wie er es wollte. Er präsentierte die Aromen in der Luft auf einem Silbertablett, rieb sie dem Ritter im wahrsten Sinne des Wortes unter die Nase.
Der alte Mann erstarrte, es dauerte Minuten, bevor er die Tür von innen schloss. Und sich schwer auf den Stuhl neben dem Tischchen fallen ließ.
Er starrte Jakob an, atmete tief durch die Nase ein. Brandnarben, Narben von selbst zugefügten Peitschenhieben. Der unverkennbare Duft der Grünen Fee. Alkohol. Erbrochenes. Urin. Eine feine Spur Blut. Selbstverständlich, darauf wies der schwarze schließlich besonders hin.
Und natürlich...Sex.
Die Bestie hatte Spaß an der Reaktion, witterte Lunte, befeuerte die Wut seines Gefängniswärters, den Ausbruch direkt vor Augen. Das würde ein Spaß…
Die Nacht brach ein und als Jakob langsam wieder dem Traumland entkam, war das erste was er fühlte eine wohlige Post koitale Schwere. Das zweite ein unglaublicher Kater und brennender Durst.
Und das dritte…
Das Dritte waren seine Instinkte, die ihn warnten. Es war stockduster im Raum. Zu hören waren außer dem scharfen, Übelkeit erregenden Rauschen zwischen seinen Ohren, nichts.
Aber er spürte es. Etwas starrte ihn an. Und dieses Etwas hegte in diesem Moment keine Zuneigung.
Dieses etwas war wütend. Und gefährlich.
Er erwachte mühsam - etwas zerrte ihn ins Bewusstsein - etwas, was Gehör verlangte. Konditionierung, die ihre Mühe mit dem zerstören Ding hatte, was Jakob zur Zeit war. Zunächst rührte er sich nicht - immerhin dieser Impuls reagierte noch - und forschte an sich. Er war nackt, verstrickt in seine Laken und sein Kopf lag zwischen zwei gigantischen Mühlsteinen.
Es war dunkel und er fühlte sich...
Er war blind!
Wichsen macht blind, Jung!, hörte er seinen Opa schimpfen. Seine Oma lachte und er bekam heiße Ohren.
Der Alkohol machte sich längst nur noch als Gift bemerkbar, aber die zusätzlichen Stoffe aus dem Gebräu der zahnlückigen Alten hatten sein Gehirn noch voll im Griff. Realität und Erinnerungen mischten sich auf groteske Weise in seinem Kopf, malten Bilder und weckten Tote. Dann huschten wieder Momente der Klarheit vorbei.
Es war dunkel.
Nacht. Nicht blind, Idiot.
Er versuchte seinen Kopf von den Mühlsteinen zu befreien.
Ächzend wälzte er sich auf den Rücken, was zur Folge hatte, dass aus dem Mühlstein eine glühende Nadel wurde, die jemand in seinen Gehörgang hämmerte. Trotzdem versuchte er hoch zu kommen. Er musste pissen, hatte Durst und brauchte endlich Licht. Er fühlte sich unwohl so im Dunkeln. Irgendwas kratzte an seiner Aufmerksamkeit, aber diese war noch zu benebelt. Außerdem sorgte der Versuch sich aufzurichten gleich dafür, dass die spärlichen Reste seines Mageninhalts nach Ausgang verlangten.
Jakob kippte halb über den Bettrand. Das er den Eimer zu greifen bekam, den die umsichtige Iola dort platziert hatte, war pures Glück.
Stöhnend rollte er sich wieder auf sein Bett, tastete nach der Nachttischlampe. Erfühlte das Talglicht. Achja.
Es dauerte eine weitere gefühlte Ewigkeit und brauchte mehrere Anläufe, dann flammte der Docht auf und warf ein gelbliches Licht.
Jakob erstarrte. Seine Augen waren in die richtige Richtung gerichtet, aber es war, als sehe er zunächst nichts dort. Herzschlag um Herzschlag verklang, dann endlich zuckte sein Stammhirn, ließ ihn zurück prallen, bis die Wand grob in seinem Rücken war und neuer Schmerz in seinem Kopf die Schatten tiefer werden ließ.
Samuel!
Sein Puls begann zu rasen.
Nein, Samuel war tot.
Das hier war nicht real!
Wie ein Kind, das damit die Schreckgespenster der Nacht aussperren wollte, kroch er wieder in die Laken und zog das Kissen über seinen Kopf.
Der Schatten auf dem Stuhl sagte noch immer keinen Ton.
Aber er machte ein Geräusch.
Tacktacktack
kleine Pause
Tacktacktack
wieder eine Pause...
Das ungeduldige Trommeln von Fingernägeln auf Holz.
Da war nichts.
Nichts.
NICHTS!
Die Faust, die das Kissen auf seinem Kopf hielt, krallte sich fester hinein.
Das ganze wiederholtesich.
Tommeln von Fingernägeln auf Holz.
Pause...
und wieder.
Mal sehen, wer als ersts aufgeben würde.
Der Mann auf dem Stuhl, oder die Blase des Knappen.
"Geh weg. Du bist nicht echt.", tönte es gedämpft unter dem Kissen hervor. Doch es klang eher flehend, als befehlend.
Ein unwilliges Brummen war die Antwort.
"Für einen Feigling hatte ich dich bisher nicht gehalten."
Die Stimme kannte er. War das jetzt besser? Er war nicht sicher.
Die Worte trafen ihn nicht besonders. Was manche Dinge anging war er ein schrecklicher Feigling und gerade war ihm so elend, dass Jarel ihn gerne alles nennen durfte, wenn er es nur nicht zu laut tat und dann wieder verschwand.
Er wühlte ein wenig in den Laken.
Achja. Pissen.
Die Geräusche, die als nächstes aus dem Kissen drangen, klangen nach Flüchen.
Endlich tauchte ein halbes Gesicht zwischen Strohsack und Kissen auf, schielte blinzelnd zu der finsteren Gestalt in der Ecke. Die Bedrohung, die dieser bewusste aufbaute, war mit Händen zu greifen und sie hatte ihre Wirkung auf Jakobs Organismus. Nur sein Verstand war noch luftig unterwegs, sodass er die Dreistigkeit besaß zu maulen: "Wenn du mir den Kopf abreißen willst, mach schnell. Dann hören wenigstens die Zwerge darin auf zu hämmern."
Die Antwort war leise, doch scharf. Sehr scharf.
"Passiert das jetzt jedes Mal, wenn ich dich auf deine Vergangenheit anspreche, Knappe?"
Nicht 'Jakob' Nicht 'Junge'. Etwas hatte sich verschoben. Weg von der immer verständnisvollen Art. Weg von dem verhohlenen Stolz, wenn er sich beim Mist bauen besonders geschickt angestellt hatte. Weg vom väterlichen. Das war mehr als nur Wu über einen ordentlichen Rausch.
Etwas lief hier schief.
"Was würde deine Schwester dazu sagen, wenn sie erführe was du getan hast. Was du getan hast, statt ihren Namen zu ehren? Was du mit deinem Körper tust und..." Er verstummt.
"Ich habe nicht das Recht, dir dein Leid abzusprechen und du nicht die Pflicht, mit mir darüber zu reden. Auch wenn du dich an die Geübte nicht gebunden fühlst, kratzt mich das nicht. "
Er beugte sich vor und wurde eine Spur lauter.
"Aber deinen Körper mit Drogen zu geisseln und dich von einem Mädchen aus der Gosse ziehen zu lassen..."
Ein dunkles Knurren drang an Jakobs Ohr. Da war noch etwas, was der Ritter allerdings herunterschluckte.
Knappe. Neuer Tonfall. Ein Ton, der ihm im Normalfall sogar Genugtuung bereitet hätte, denn es hieß, er hatte es mal wieder geschafft. Das Maß voll gemacht, den nächsten Akteneintrag kassiert. Seine eigene traurige Statistik weiter voll gemacht.
Moment. Auszeit.
Anderes Leben, andere Umstände.
Hier hatte er doch ein anderer sein wollen. Neu anfangen. War doch bisher gut gelaufen: er stellte nichts allzu gravierendes an und Jarel benahm sich nicht wie all die anderen.
Gerade versagten sie beide.
Die Leier. Ach verdammt... Was würde dein Vater sagen, was deine Mutter... Zugegeben, Schwester war neu, aber das Schema das Gleiche.
Dann wurde es verwirrend. Oder besser noch verwirrender. Drogen??
Er stöhnte leise. Zu laut.
"Ich weiß es nicht.", hatte er irgendwann mitten in Jarels Monolog angefangen zu murmeln.
"Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht!" Auch seine Stimme wurde lauter, bis es in seinen Ohren pfiff.
"Was für Drogen?", murmelte er wieder leiser, seinem eigenen Kopf zugunsten. Er kramte wirklich in seiner Erinnerung, aber je mehr er es versuchte, desto chaotischer schienen diese zu werden.
"Ich wollte nur ein Bier trinken... Besser als 'ne Schlägerei anzufangen, oder?!" Seine Stimme klang, als habe er eine Drahtbürste gefressen. Immerhin weckte ihn das Adrenalin langsam immer mehr auf.
Irgendwie gelang es ihm, in eine sitzende Position zu kommen, ohne das Gefühl zu haben, sein Magen kehre sich um. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, aber besser wurde davon nichts. Nicht das verschobene Körpergefühl, nicht der Schmerz, nicht die Wut über die Vorwürfe.
"Ich habe mich immer an alle meine Gelübde gehalten! Alle!" Irgendwie war ihm das wichtig, so egal es Jarel auch sein mochte.
Tacheles also? Er fühlte sich nicht danach - ganz und gar nicht. Und er musste pissen. Der Eimer war verlockend... Er stank eh schon. Doch er widersetzte sich.
"Da ist etwas Böses in mir, Jarel. Als wäre mit Miriam der gute Zwilling gestorben... Es ist in meinem Kopf, es will ständig raus und hier gibt es kein Ventil. Nichts was hilft." Er wurde wieder laut, obwohl es ihm selbst weh tat und der Schmerz dafür sorgte, dass ihm speiübel wurde. Jakob presste die Augen zusammen, drückte die Fäuste hinein.
"Es macht mich wahnsinnig."
Etwas in Jarel brach in bitteres Lachen aus.
Er hatte sich nicht nur jemanden raus gesucht, der ihm ähnlich war, sondern eine Kopie von sich.
"Und kennst du jemanden, mit dem du über dieses Problem reden könntest? Vielleicht jemanden, der das Problem kennt?", brummte Jarel, schon einiges ruhiger als zuvor.
Trotzdem gab es da noch etwas, das verhinderte, das er sich vollständig beruhigte.
Jakob schnaubte. Alles was Sie jetzt sagen, wird garantiert gegen Sie verwendet - so kam er sich vor, dennoch gab er diesen Laut von sich. Auch wenn alles ruckhafte, selbst solch ein Laut, Nägel in seinen Schädel trieb. Sie waren schon ein Duo. Was versuchte er denn seit über einem Jahr? Es fiel ihm zum Henker nicht leicht, aber er hatte sich Jarel gegenüber schon weiter geöffnet als jemals einem Menschen zuvor. Wie konnte er so eine Frage stellen? Plötzlich war Jakob zum Heulen zumute. Seine Emotionen wankten noch gemeinsam mit dem Ballon am Bändchen, das sein Gehirn darstellte, auf und ab.
"Willst du mich verarschen?", fragte er schließlich unerwartet heftig. Scheinbar brauchte es leichte Drogen, um diesen Menschen emotional aus der Reserve zu locken. Er fluchte, zeigend, dass er Schüler eines guten Lehrers war, dann erhob er sich auf wackelige Beine.
"Warte kurz - bitte - ich muss echt pissen."
Mit sehr vorsichtigen Bewegungen, stieg er in die Sachen, die Iola ihm dagelassen hatte und schlurfte dann hinaus. Den Eimer nahm er mit.
Auf dem Weg zur Latrine versuchte er seine Gedanken irgendwie zu sortieren, sich zu erinnern. Aber der größte Teil des gestrigen Abends war in einem Nebel verborgen, aus dem nur hier und da ein eher verwirrendes Bild hervor stach. Bilder, die auf ein Gesamtkunstwerk hinwiesen, dass er eigentlich lieber nicht sehen wollte.
Erleichtert und mit nassem Kopf, nachdem er selbigen in den Eimer am Brunnen gesteckt hatte, kehrte er in seine Kammer zurück. Jarel wartete, wie erbeten. Immer noch der brütende Schwarze Schatten. Jakob wäre es lieber, er könnte die Diskussion führen, wenn er all Sinne beisammen hatte, aber das würden sie wohl beide nicht zulassen.
Ächzend machte er sich wieder auf seinem Bett lang. Liegen war gut. Fand auch sein Magen.
"Gott, wie kann man nach so einem Erwachen je wieder auch nur an eine Wiederholung denken?", knirrschte er kleinlaut.
"War das dein erster Tanz mit der grünen Fee?", fragte der Ritter düster. Noch immer war von ihm außer seiner Worte nicht zu hören. Als würde er nicht atmen. Als wäre er nichts existent.
Jakob schnaufte und schon saß er wieder. Beschissene Idee. Er schluckte hart, schloss einen Moment die Augen, blieb aber eisern sitzen.
"Nochmal. Ich war ein Bier trinken - ok, zwei Bier und den ein oder anderen Brandwein. Ja, gegen alles, was ich geschworen und bisher gelebt habe.", entgegnete er erneut heftiger als man es von ihm gewohnt war. Er zwang sich zur Ruhe. "Da war dieser kleine Kerl..." Dann zögerte er, dachte offenkundig nach. Lange. Puzzleteile. Bilder. Nein, Fetzen von Bildern.
Endlich sah er Jarel an. "Ich kann mich ums Verrecken nicht an mehr erinnern."
Er blinzelte. Eine Alte mit einer schrecklichen Zahnlücke... er schauderte. "Sicher nicht an irgendwelche Feen."
"Du stinkst nach erbrochenem, Pferdepisse und einem ausgiebigen Tanz mit der grünen Fee, Knappe."
Und nach Sex und Blut. Doch das verschwieg er. Noch.
"Keine Erinnerung, ja? An nichts?" Das konnte doch nicht wahr sein. Die Kleine hatte sich ihm geschenkt, und er würdigte das nicht einmal. Nun...vielleicht besser?
Oder war das Unrecht...
Unwillkürlich witterte er an seinem Ärmel, warf Jarel dann einen skeptischen Blick zu. Catriona? Er roch nichts von all dem, nur die Seife...
Seife.
Kräuterseife.
Irgendwas klingelte leise in seinem Hinterkopf. Leicht schüttelte er den Kopf, aber er wirkte nicht mehr ganz so sicher.
"Ich... keine Ahnung... ich." Er legte sich wieder auf den Rücken, starrte zur Decke, drehte dann den Kopf. "Jarel, glaub mir bitte - ich hab bis zum gestrigen Tag noch niemals irgendwas in der Richtung angerührt. Ich weiß nichtmal von was für einer Fee du die ganze Zeit redest."
"Hier heißt es glaube ich...", er musste überlegen. "...Absinth."
Jarel zog sich an der Lehne des Stuhles hoch.
"Denk über die Nacht nach. Es gibt da etwas wichtiges, an dass du dich erinnern solltest." Unsicher ging Jarel zur Tür.
"Du bist nicht allein auf dieser Welt. Benimm dich auch so."
Noch in der Tür sah er sich um. "Morgen früh, im Waisenhaus. Deine Schonzeit ist vorbei."
Er war nicht allein auf dieser Welt. Vielleicht nicht. Aber allein in seinem Kopf. Jarel ging, Jakob hielt sich mit Mühe davon ab, ihm irgendwas hinterher zu werfen, denn das einzig greifbare war das Talglicht. Statt dessen rollte er sich auf der Seite zusammen und starrte finster ins Leere.
Es war zwecklos mit dem Jungen zu sprechen, wenn er so sich in seiner Sturheit zurückzog, nichts an sich heran lies, sich selbst belog.
Leise schloss Jarel die Tür und starrte auf das raue Holz.
Violetta und Jakob also. Sie hätte es definitiv schlimmer treffen können, aber dann vergessen zu werden. Das hatte sie nicht verdient.
Der Junge hatte es nicht leicht gehabt. Sein Mündel aber auch nicht. Er würde nie die Bilder ihre geschändeten Mutter, des erschlagenen Vaters, des zu Tode gequälten Bruders vergessen.
Und auch das nicht, was er mit den Banditen angestellt hatte.
Es war mitten in der Nacht. Morgen, nachdem er dafür gesorgt hatte das der Junge seinen Dienst antrat, würde er mit ihr reden. Würde sich zeigen lassen, wo sie Jakob gefunden hatte. Auf die Nacht würde er sie nicht ansprechen.
Morgen. Heute war es zu spät die Kleine zu wecken.
Morgen war früh genug.
Müde und enttäuscht schleppte sich der Ritter an der Wand entlang zu Arvijds persönlichem Krankenzimmer, in dem er untergebracht war.
Kaum im Bett fielen ihm die Augen zu. Eine ruhige Nacht wurde es trotzdem nicht.
Kurz sackte er wieder in den Dämmerschlaf, dann berührte Nässe seine Haut, wärmte erst und kühlte dann, als sie trocknete. Überdeutlich, viel zu klar. Ein Schwamm. Finger. Finger auf seiner Haut, der Berg- und Tallandschaft seiner Narben. Es erinnerte ihn an etwas.
Finger auf seiner Schläfe. Er schlug die Augen auf, deren Glanz seinen Zustand überdeutlich machte, aber er sah sie. Iola, das hübsche Mädchen mit den blauen Augen. Doch jetzt fehlte etwas, dass ihn immer band, wenn er sie ansah. Das ihn hielt und einen Abstand wahrte, den der Anstand gebot und sein Schwur. Es war weg. Da war nur ein perlendes Gefühl, das seine Seiten entlang lief.
Er hob die Hand, berührte ihr Gesicht, das im dämmrigen Licht seltsam verklärt wirkte.
Er hob seine Finger und berührte sie.
Das setzte nicht nur ihre Seele in Flammen, sondern auch ihr Körper begann lauter nach etwas zu verlangen, von dem sie bisher nicht gewusst hatte, dass sie es in sich trug.
Seine Finger spielten auf ihr wie ein Bogen auf einer Violinsaite, brachte sie zum Klingen, etwas tief in ihr zum Vibrieren.
Sie wollte etwas. Aber was? War es das, was in den Büchern über die Fortpflanzung gesehen hatte?
Sie wusste es nicht, aber sie war bereit es herauszufinden.
Seine schmalen Lippen zogen die ihren an wie ein Magnet. Sie ließ sich von diesem Impuls ziehen, legte ihren Oberkörper auf seinen, drückte ihre Lippen auf seinen Mund, ohne genau zu wissen warum. Es war richtig so. Seine Lippen waren rau und eine nicht ganz so verliebte, nicht ganz so berauschte Person hätte an den Verlauf seines Ausfluges gedacht und den Kuss vermieden.
Nicht Iola.
Ihr Herz schlug so hart gegen ihre Brust das sie dachte, wenn sie dem Begehren nicht nachging, würde es ihr zerspringen.
Unwissend, dass es da mehr gab als nur die Lippen aufeinander zu drücken huschten ihre schmalen Finger in sein Haar, seinen Nacken, über seine Schulter.
Sie spürte wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten und gegen die Stoffstreifen rieben, die sie um den Oberkörper gewickelt trug. Wie es sich wohl anfühlte, wenn sie ihre Haut nackt auf seine legte?
Ob es ihm so gefiel wie ihr?
Völlig im Kuss versunken rückte die Welt weit fort von ihr.
Sie war so nah, schmeckte so süß. Sein Verstand war noch im Delirium, sein Körper folgte einfach der Verlockung ihrer Weiblichkeit. Jakobs Hände glitten unter ihr Hemd, folgten einem Instinkt, der so alt war, wie das Leben selbst.
Ihr Zögern verlosch wie ein Feuer, auf den ein Schlagwetter niederging.
Sie zog sich mit fließenden Bewegungen aus, löste die Bänder um ihre Oberweite, streifte ihr Untergewand ab, ließ alles achtlos zu Boden gleiten und schlüpfte zu ihm ins Bett.
Noch lag sie neben ihm, schwer atmend immer wieder nach seinen Lippen haschend, während ihre Finger seinen Körper erforschten und seine Hände den ihren. Seine Finger fanden Brustwarzen so hart, dass man damit einen gefrorenen Acker hätte umpflügen können.
Zwischen den Schenkeln des Jungen gerieten ihre Finger an etwas, dass sie bisher nur in der nicht erigierten Version kannte. Das hier war anders. Erstaunt linste sie zwischen die beiden vor Schweiß und Luftfeuchtigkeit glänzenden Körper. Ja…das kannte sie von den Stichen. Und jetzt war ihr auch klar, warum es in den Büchern immer so detailliert dargestellt war. Stramm vor Jakobs flachem Bauch stehend lachte ihr die pure Verlockung entgegen.
Und tief in sich wusste sie auch, was sie nun anfangen würde. Anfangen wollte. Anfangen musste.
Sanft schob sie ihn auf den Rücken und schwang sich auf seine Oberschenkel, nahm seinen Schaft in die Hand, spielte etwas damit, stöhnte tonlos. Wie es ging, wusste sie nicht recht.
Noch einen Kuss…ja, dann würde sich alles ergeben. So legte sie sich also auf ihn, seinen Schwanz zwischen seinen und ihren Bauch einklemmend, küsste ihn wieder – Küssen war sooo schön – und rieb sich an ihm, ihre Schenkel an seiner Hüfte, ihr dunkles Haar schirmte seine Sicht, so dass er nur sie sah, nur sie roch, nur sie spürte.
Es gab nur noch sie. Und ihn. Und ihre gemeinsame Lust.
Er trank ihre Küsse, atmete ihren Duft und fiel dem Feuer ihrer Berührungen hoffnungslos zum Opfer. Von allen Hemmungen befreit, erkundete er ihren jungen Körper, ließ keinen Zentimeter aus, auch wenn alles wie durch einen Dunstschleier zu ihm drang. Die Reaktion seines Körpers war ihm vertraut - wie wohl jeder Junge hatte auch Jakob sich unzählige Male der Sünde des Onan schuldig gemacht - aber von feiner Frauenhand berührt zu werden, einen warmen Körper auf der eigenen Haut zu spüren, war aufregend neu. Die Euphorie machte ihn etwas wacher, auch wenn dieses Bewusstsein verzerrt war von den Giften in seinem Blut.
Er stieß keuchend den Atem aus, als sie sich an ihn presste, bewusst oder unbewusst mit seiner Erektion spielte. Sie war schön. Ihre blauen Augen leuchteten überirdisch. Ein Engel. Sein Engel.
Sein überhitztes Gehirn gaukelte ihm Bilder vor, ließ die Ränder verschwimmen und Iolas Gesicht. Ließ sie zu Aria werden, zu Sindra, zu Miriam, zu Petra (oder Paula) - zu allen Frauen, die seine jugendliche Libido je angesprochen hatten. Bis er wieder zurück stürzte ins Jetzt. Ins Hier. Verloren.
Ein Sünder. Elend.
Aber die Hölle würde noch eine Nacht warten.
Der Rest des Aktes ertrank in Rausch und Delirium.
Halb seinen Händen, halb ihren Instinkten gefolgt richtete sie sich auf ihn auf, brachte ihn in Position…und senkte ihr Becken dem seinen entgegen.
Er spürte den Widerstand, hörte ihr tonloses Keuchen, eine Mischung aus kurzem Schmerz und aufflammender Lust, roch die Kräuter der Seife, ihren Schweiß, den leichten Geruch von Kupfer.
Und dann empfing ihn enge, tropfend feuchte Hitze.
Es brauchte nicht viel sie zu steuern. Eine kurze, sanfte Berührung seiner Hand, gewichtsloser Druck auf ihrem Becken. Sie gab keinen Laut von sich, doch schon nach wenigen Minuten warf sie den Kopf in den Nacken, ihr dunkles Haar folgte dem Schwung in einem weiten Bogen. Sie spannte den Körper, begann zu zittern. Er hatte nicht viel Mühe mit ihr. Einige kurze Stöße nach oben und sie begann zu zucken. Auf ihren Lippen ein Stöhnen, das keinen Laut abgab, doch ihr Körper rief um so lauter ihre Lust hinaus. Eng. Heiß, pulsierend.
Er kam. Mit ihr.
Und endlich riss ihn die Schwärze hinweg in einen tiefen und endlich auch erholsamen Schlaf.
Es war keine lange Nummer gewesen. Kein endloses Wälzen in den Laken. Trotzdem fühlte Iola sich, wie sie sich noch nie gefühlt hatte.
Sie war erfüllt von einer Liebe, die ganz anders war als die zur Muttergöttin. Tiefer, brennender, verlangender.
Noch bevor der gemeinsame Höhepunkt in ihrem Körper verklungen war lag er reglos da, ein seliges – und ein wenig dümmliches- Lächeln auf den Lippen, tief atmend, schlafend, ruhig.
Wenigstens für diese Nacht hatte sie ihm das Leid genommen. Ob sie jemals wieder das Bett teilen würden?
Sie wusch ihn nochmal, versuchte alle Spuren zu verwischen. Der Ritter würde mit ihr hadern, wenn er es wüsste. Schlimmer noch, Jakob durfte keine Frauen haben. Was hatte sie nur getan?!
Sie wusch, ließ alles verschwinden, drehte ihn auf die Seite, platzierte das Bettzeug so, dass er sich nicht umdrehen konnte.
Was sie nicht wusste war, dass ihr Retter und Vormund über eine Nase verfügte, die weit besser war als die eines Menschen. Zumindest so lange die Bestie in ihm das wollte.
Als Jarel sich nach der Dämmerung endlich von Iolas Schulter löste, in Jakobs Zimmer trat und ihn betrachtete, wollte der Schwarze es. Und wie er es wollte. Er präsentierte die Aromen in der Luft auf einem Silbertablett, rieb sie dem Ritter im wahrsten Sinne des Wortes unter die Nase.
Der alte Mann erstarrte, es dauerte Minuten, bevor er die Tür von innen schloss. Und sich schwer auf den Stuhl neben dem Tischchen fallen ließ.
Er starrte Jakob an, atmete tief durch die Nase ein. Brandnarben, Narben von selbst zugefügten Peitschenhieben. Der unverkennbare Duft der Grünen Fee. Alkohol. Erbrochenes. Urin. Eine feine Spur Blut. Selbstverständlich, darauf wies der schwarze schließlich besonders hin.
Und natürlich...Sex.
Die Bestie hatte Spaß an der Reaktion, witterte Lunte, befeuerte die Wut seines Gefängniswärters, den Ausbruch direkt vor Augen. Das würde ein Spaß…
Die Nacht brach ein und als Jakob langsam wieder dem Traumland entkam, war das erste was er fühlte eine wohlige Post koitale Schwere. Das zweite ein unglaublicher Kater und brennender Durst.
Und das dritte…
Das Dritte waren seine Instinkte, die ihn warnten. Es war stockduster im Raum. Zu hören waren außer dem scharfen, Übelkeit erregenden Rauschen zwischen seinen Ohren, nichts.
Aber er spürte es. Etwas starrte ihn an. Und dieses Etwas hegte in diesem Moment keine Zuneigung.
Dieses etwas war wütend. Und gefährlich.
Er erwachte mühsam - etwas zerrte ihn ins Bewusstsein - etwas, was Gehör verlangte. Konditionierung, die ihre Mühe mit dem zerstören Ding hatte, was Jakob zur Zeit war. Zunächst rührte er sich nicht - immerhin dieser Impuls reagierte noch - und forschte an sich. Er war nackt, verstrickt in seine Laken und sein Kopf lag zwischen zwei gigantischen Mühlsteinen.
Es war dunkel und er fühlte sich...
Er war blind!
Wichsen macht blind, Jung!, hörte er seinen Opa schimpfen. Seine Oma lachte und er bekam heiße Ohren.
Der Alkohol machte sich längst nur noch als Gift bemerkbar, aber die zusätzlichen Stoffe aus dem Gebräu der zahnlückigen Alten hatten sein Gehirn noch voll im Griff. Realität und Erinnerungen mischten sich auf groteske Weise in seinem Kopf, malten Bilder und weckten Tote. Dann huschten wieder Momente der Klarheit vorbei.
Es war dunkel.
Nacht. Nicht blind, Idiot.
Er versuchte seinen Kopf von den Mühlsteinen zu befreien.
Ächzend wälzte er sich auf den Rücken, was zur Folge hatte, dass aus dem Mühlstein eine glühende Nadel wurde, die jemand in seinen Gehörgang hämmerte. Trotzdem versuchte er hoch zu kommen. Er musste pissen, hatte Durst und brauchte endlich Licht. Er fühlte sich unwohl so im Dunkeln. Irgendwas kratzte an seiner Aufmerksamkeit, aber diese war noch zu benebelt. Außerdem sorgte der Versuch sich aufzurichten gleich dafür, dass die spärlichen Reste seines Mageninhalts nach Ausgang verlangten.
Jakob kippte halb über den Bettrand. Das er den Eimer zu greifen bekam, den die umsichtige Iola dort platziert hatte, war pures Glück.
Stöhnend rollte er sich wieder auf sein Bett, tastete nach der Nachttischlampe. Erfühlte das Talglicht. Achja.
Es dauerte eine weitere gefühlte Ewigkeit und brauchte mehrere Anläufe, dann flammte der Docht auf und warf ein gelbliches Licht.
Jakob erstarrte. Seine Augen waren in die richtige Richtung gerichtet, aber es war, als sehe er zunächst nichts dort. Herzschlag um Herzschlag verklang, dann endlich zuckte sein Stammhirn, ließ ihn zurück prallen, bis die Wand grob in seinem Rücken war und neuer Schmerz in seinem Kopf die Schatten tiefer werden ließ.
Samuel!
Sein Puls begann zu rasen.
Nein, Samuel war tot.
Das hier war nicht real!
Wie ein Kind, das damit die Schreckgespenster der Nacht aussperren wollte, kroch er wieder in die Laken und zog das Kissen über seinen Kopf.
Der Schatten auf dem Stuhl sagte noch immer keinen Ton.
Aber er machte ein Geräusch.
Tacktacktack
kleine Pause
Tacktacktack
wieder eine Pause...
Das ungeduldige Trommeln von Fingernägeln auf Holz.
Da war nichts.
Nichts.
NICHTS!
Die Faust, die das Kissen auf seinem Kopf hielt, krallte sich fester hinein.
Das ganze wiederholtesich.
Tommeln von Fingernägeln auf Holz.
Pause...
und wieder.
Mal sehen, wer als ersts aufgeben würde.
Der Mann auf dem Stuhl, oder die Blase des Knappen.
"Geh weg. Du bist nicht echt.", tönte es gedämpft unter dem Kissen hervor. Doch es klang eher flehend, als befehlend.
Ein unwilliges Brummen war die Antwort.
"Für einen Feigling hatte ich dich bisher nicht gehalten."
Die Stimme kannte er. War das jetzt besser? Er war nicht sicher.
Die Worte trafen ihn nicht besonders. Was manche Dinge anging war er ein schrecklicher Feigling und gerade war ihm so elend, dass Jarel ihn gerne alles nennen durfte, wenn er es nur nicht zu laut tat und dann wieder verschwand.
Er wühlte ein wenig in den Laken.
Achja. Pissen.
Die Geräusche, die als nächstes aus dem Kissen drangen, klangen nach Flüchen.
Endlich tauchte ein halbes Gesicht zwischen Strohsack und Kissen auf, schielte blinzelnd zu der finsteren Gestalt in der Ecke. Die Bedrohung, die dieser bewusste aufbaute, war mit Händen zu greifen und sie hatte ihre Wirkung auf Jakobs Organismus. Nur sein Verstand war noch luftig unterwegs, sodass er die Dreistigkeit besaß zu maulen: "Wenn du mir den Kopf abreißen willst, mach schnell. Dann hören wenigstens die Zwerge darin auf zu hämmern."
Die Antwort war leise, doch scharf. Sehr scharf.
"Passiert das jetzt jedes Mal, wenn ich dich auf deine Vergangenheit anspreche, Knappe?"
Nicht 'Jakob' Nicht 'Junge'. Etwas hatte sich verschoben. Weg von der immer verständnisvollen Art. Weg von dem verhohlenen Stolz, wenn er sich beim Mist bauen besonders geschickt angestellt hatte. Weg vom väterlichen. Das war mehr als nur Wu über einen ordentlichen Rausch.
Etwas lief hier schief.
"Was würde deine Schwester dazu sagen, wenn sie erführe was du getan hast. Was du getan hast, statt ihren Namen zu ehren? Was du mit deinem Körper tust und..." Er verstummt.
"Ich habe nicht das Recht, dir dein Leid abzusprechen und du nicht die Pflicht, mit mir darüber zu reden. Auch wenn du dich an die Geübte nicht gebunden fühlst, kratzt mich das nicht. "
Er beugte sich vor und wurde eine Spur lauter.
"Aber deinen Körper mit Drogen zu geisseln und dich von einem Mädchen aus der Gosse ziehen zu lassen..."
Ein dunkles Knurren drang an Jakobs Ohr. Da war noch etwas, was der Ritter allerdings herunterschluckte.
Knappe. Neuer Tonfall. Ein Ton, der ihm im Normalfall sogar Genugtuung bereitet hätte, denn es hieß, er hatte es mal wieder geschafft. Das Maß voll gemacht, den nächsten Akteneintrag kassiert. Seine eigene traurige Statistik weiter voll gemacht.
Moment. Auszeit.
Anderes Leben, andere Umstände.
Hier hatte er doch ein anderer sein wollen. Neu anfangen. War doch bisher gut gelaufen: er stellte nichts allzu gravierendes an und Jarel benahm sich nicht wie all die anderen.
Gerade versagten sie beide.
Die Leier. Ach verdammt... Was würde dein Vater sagen, was deine Mutter... Zugegeben, Schwester war neu, aber das Schema das Gleiche.
Dann wurde es verwirrend. Oder besser noch verwirrender. Drogen??
Er stöhnte leise. Zu laut.
"Ich weiß es nicht.", hatte er irgendwann mitten in Jarels Monolog angefangen zu murmeln.
"Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht!" Auch seine Stimme wurde lauter, bis es in seinen Ohren pfiff.
"Was für Drogen?", murmelte er wieder leiser, seinem eigenen Kopf zugunsten. Er kramte wirklich in seiner Erinnerung, aber je mehr er es versuchte, desto chaotischer schienen diese zu werden.
"Ich wollte nur ein Bier trinken... Besser als 'ne Schlägerei anzufangen, oder?!" Seine Stimme klang, als habe er eine Drahtbürste gefressen. Immerhin weckte ihn das Adrenalin langsam immer mehr auf.
Irgendwie gelang es ihm, in eine sitzende Position zu kommen, ohne das Gefühl zu haben, sein Magen kehre sich um. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, aber besser wurde davon nichts. Nicht das verschobene Körpergefühl, nicht der Schmerz, nicht die Wut über die Vorwürfe.
"Ich habe mich immer an alle meine Gelübde gehalten! Alle!" Irgendwie war ihm das wichtig, so egal es Jarel auch sein mochte.
Tacheles also? Er fühlte sich nicht danach - ganz und gar nicht. Und er musste pissen. Der Eimer war verlockend... Er stank eh schon. Doch er widersetzte sich.
"Da ist etwas Böses in mir, Jarel. Als wäre mit Miriam der gute Zwilling gestorben... Es ist in meinem Kopf, es will ständig raus und hier gibt es kein Ventil. Nichts was hilft." Er wurde wieder laut, obwohl es ihm selbst weh tat und der Schmerz dafür sorgte, dass ihm speiübel wurde. Jakob presste die Augen zusammen, drückte die Fäuste hinein.
"Es macht mich wahnsinnig."
Etwas in Jarel brach in bitteres Lachen aus.
Er hatte sich nicht nur jemanden raus gesucht, der ihm ähnlich war, sondern eine Kopie von sich.
"Und kennst du jemanden, mit dem du über dieses Problem reden könntest? Vielleicht jemanden, der das Problem kennt?", brummte Jarel, schon einiges ruhiger als zuvor.
Trotzdem gab es da noch etwas, das verhinderte, das er sich vollständig beruhigte.
Jakob schnaubte. Alles was Sie jetzt sagen, wird garantiert gegen Sie verwendet - so kam er sich vor, dennoch gab er diesen Laut von sich. Auch wenn alles ruckhafte, selbst solch ein Laut, Nägel in seinen Schädel trieb. Sie waren schon ein Duo. Was versuchte er denn seit über einem Jahr? Es fiel ihm zum Henker nicht leicht, aber er hatte sich Jarel gegenüber schon weiter geöffnet als jemals einem Menschen zuvor. Wie konnte er so eine Frage stellen? Plötzlich war Jakob zum Heulen zumute. Seine Emotionen wankten noch gemeinsam mit dem Ballon am Bändchen, das sein Gehirn darstellte, auf und ab.
"Willst du mich verarschen?", fragte er schließlich unerwartet heftig. Scheinbar brauchte es leichte Drogen, um diesen Menschen emotional aus der Reserve zu locken. Er fluchte, zeigend, dass er Schüler eines guten Lehrers war, dann erhob er sich auf wackelige Beine.
"Warte kurz - bitte - ich muss echt pissen."
Mit sehr vorsichtigen Bewegungen, stieg er in die Sachen, die Iola ihm dagelassen hatte und schlurfte dann hinaus. Den Eimer nahm er mit.
Auf dem Weg zur Latrine versuchte er seine Gedanken irgendwie zu sortieren, sich zu erinnern. Aber der größte Teil des gestrigen Abends war in einem Nebel verborgen, aus dem nur hier und da ein eher verwirrendes Bild hervor stach. Bilder, die auf ein Gesamtkunstwerk hinwiesen, dass er eigentlich lieber nicht sehen wollte.
Erleichtert und mit nassem Kopf, nachdem er selbigen in den Eimer am Brunnen gesteckt hatte, kehrte er in seine Kammer zurück. Jarel wartete, wie erbeten. Immer noch der brütende Schwarze Schatten. Jakob wäre es lieber, er könnte die Diskussion führen, wenn er all Sinne beisammen hatte, aber das würden sie wohl beide nicht zulassen.
Ächzend machte er sich wieder auf seinem Bett lang. Liegen war gut. Fand auch sein Magen.
"Gott, wie kann man nach so einem Erwachen je wieder auch nur an eine Wiederholung denken?", knirrschte er kleinlaut.
"War das dein erster Tanz mit der grünen Fee?", fragte der Ritter düster. Noch immer war von ihm außer seiner Worte nicht zu hören. Als würde er nicht atmen. Als wäre er nichts existent.
Jakob schnaufte und schon saß er wieder. Beschissene Idee. Er schluckte hart, schloss einen Moment die Augen, blieb aber eisern sitzen.
"Nochmal. Ich war ein Bier trinken - ok, zwei Bier und den ein oder anderen Brandwein. Ja, gegen alles, was ich geschworen und bisher gelebt habe.", entgegnete er erneut heftiger als man es von ihm gewohnt war. Er zwang sich zur Ruhe. "Da war dieser kleine Kerl..." Dann zögerte er, dachte offenkundig nach. Lange. Puzzleteile. Bilder. Nein, Fetzen von Bildern.
Endlich sah er Jarel an. "Ich kann mich ums Verrecken nicht an mehr erinnern."
Er blinzelte. Eine Alte mit einer schrecklichen Zahnlücke... er schauderte. "Sicher nicht an irgendwelche Feen."
"Du stinkst nach erbrochenem, Pferdepisse und einem ausgiebigen Tanz mit der grünen Fee, Knappe."
Und nach Sex und Blut. Doch das verschwieg er. Noch.
"Keine Erinnerung, ja? An nichts?" Das konnte doch nicht wahr sein. Die Kleine hatte sich ihm geschenkt, und er würdigte das nicht einmal. Nun...vielleicht besser?
Oder war das Unrecht...
Unwillkürlich witterte er an seinem Ärmel, warf Jarel dann einen skeptischen Blick zu. Catriona? Er roch nichts von all dem, nur die Seife...
Seife.
Kräuterseife.
Irgendwas klingelte leise in seinem Hinterkopf. Leicht schüttelte er den Kopf, aber er wirkte nicht mehr ganz so sicher.
"Ich... keine Ahnung... ich." Er legte sich wieder auf den Rücken, starrte zur Decke, drehte dann den Kopf. "Jarel, glaub mir bitte - ich hab bis zum gestrigen Tag noch niemals irgendwas in der Richtung angerührt. Ich weiß nichtmal von was für einer Fee du die ganze Zeit redest."
"Hier heißt es glaube ich...", er musste überlegen. "...Absinth."
Jarel zog sich an der Lehne des Stuhles hoch.
"Denk über die Nacht nach. Es gibt da etwas wichtiges, an dass du dich erinnern solltest." Unsicher ging Jarel zur Tür.
"Du bist nicht allein auf dieser Welt. Benimm dich auch so."
Noch in der Tür sah er sich um. "Morgen früh, im Waisenhaus. Deine Schonzeit ist vorbei."
Er war nicht allein auf dieser Welt. Vielleicht nicht. Aber allein in seinem Kopf. Jarel ging, Jakob hielt sich mit Mühe davon ab, ihm irgendwas hinterher zu werfen, denn das einzig greifbare war das Talglicht. Statt dessen rollte er sich auf der Seite zusammen und starrte finster ins Leere.
Es war zwecklos mit dem Jungen zu sprechen, wenn er so sich in seiner Sturheit zurückzog, nichts an sich heran lies, sich selbst belog.
Leise schloss Jarel die Tür und starrte auf das raue Holz.
Violetta und Jakob also. Sie hätte es definitiv schlimmer treffen können, aber dann vergessen zu werden. Das hatte sie nicht verdient.
Der Junge hatte es nicht leicht gehabt. Sein Mündel aber auch nicht. Er würde nie die Bilder ihre geschändeten Mutter, des erschlagenen Vaters, des zu Tode gequälten Bruders vergessen.
Und auch das nicht, was er mit den Banditen angestellt hatte.
Es war mitten in der Nacht. Morgen, nachdem er dafür gesorgt hatte das der Junge seinen Dienst antrat, würde er mit ihr reden. Würde sich zeigen lassen, wo sie Jakob gefunden hatte. Auf die Nacht würde er sie nicht ansprechen.
Morgen. Heute war es zu spät die Kleine zu wecken.
Morgen war früh genug.
Müde und enttäuscht schleppte sich der Ritter an der Wand entlang zu Arvijds persönlichem Krankenzimmer, in dem er untergebracht war.
Kaum im Bett fielen ihm die Augen zu. Eine ruhige Nacht wurde es trotzdem nicht.